13 Juli 2024

Der Historiker von Elizabeth Kostova

„12.Dezember 1930, an meinen unglücklichen Nachfolger“

So beginnt der Brief, den Professor Rossi hinterlässt, als er spurlos verschwindet. Dieser Brief und noch einige weitere, werden von seinem Studenten Paul gefunden. Paul schreibt an seiner Doktorarbeit über holländische Kaufleute des 17. Jahrhunderts, Rossi ist sein Doktorvater, Mentor und Freund. Als dieser plötzlich verschwindet , macht sich Paul auf die Suche nach ihm. Diese Suche führt ihn nach Frankreich, Rumänien, Ungarn, in die Türkei und nach Bulgarien. Begleitet wird er dabei von Helen Rossi. Sie ist die uneheliche Tochter des Professors, zu der er sich nie bekannt hat. Dementsprechend ist die Abneigung der jungen Frau gegenüber dem Manne, der ihre Mutter im Stich gelassen hat, sehr groß. Sie kann die Bewunderung Pauls für Rossi nicht verstehen, doch je länger sie auf seinen Spuren wandeln und je mehr sie aus den hinterlassenen Briefen über ihn erfährt, desto mehr offenbart sich, was für ein Mensch er war.
Die Geschichte von Paul und Helen spielt in den 50er Jahren. Als Paul eines Tages ebenfalls verschwindet, macht sie seine Tochter auf den Weg, ihn zu finden. Es sind die 70er Jahre. Das Mädchen ist sehr behütet in einer Amsterdamer Klosterschule aufgewachsen und weiß nichts von der wirklichen Welt. Allerdings hat sie ihren Vater oft auf seinen diplomatischen Reisen begleitet und sie ist sich sicher, ihn zu finden zu können.
Drei Jahrzehnte, drei Reisen, alle miteinander verbunden durch Vlad III, genannt Dracula.
 
Kommentar:
Das Buch ist ein Softcover mit über 800 Seiten und es kostet Zeit, es zu lesen. Die Autorin schreibt, dass sie zehn Jahre recherchiert hat, bevor sie diesen Roman geschrieben hat und das ist der Geschichte anzumerken. Sie ist voll von historischen Fakten, die bisweilen sehr ausufernd sind, nichtsdestotrotz haben sie mich gefesselt.
Rossi kommt als junger Mann nach Rumänien. Er möchte mehr über den Ursprung des walachischen Herrschers Vlad III erfahren, der jahrelang den Osmanen trotzen konnte und von dem erzählt wird, dass er nie wirklich gestorben ist. In Rumänien lernt er eine junge Frau kennen und lieben. Aus dieser Beziehung geht Helen hervor. Obwohl er deren Mutter verspricht, nach vier Wochen zu ihr zurückzukehren und sie zu heiraten, verschwindet er aus ihrem Leben, nicht wissend, dass die junge Frau ein Kind in sich trägt. Später leugnet er, jemals in Rumänien gewesen zu sein oder diese Frau zu kennen, das Kind erkennt er nicht an. Dementsprechend wütend ist Helen auf ihren Vater, dessen Werdegang sie verfolgt. Sie möchte besser sein als er und widmet ihre Studien ähnlichen Themen wie er, begibt sich dadurch aber in die gleiche Gefahr. Dracula wird auf sie aufmerksam.
In der Türkei begegnen Helen und Paul Turgut Bora und Selim Aksoy, beide haben sich der Suche nach Dracula verpflichtet, die Geißel der Osmanen. Zu viert finden sie immer mehr über den grausamen Fürsten heraus. Ein bewundernswerter, imponierender aber auch sehr grausamer Mann, der starke Fußabdrücke in der Geschichte hinterlassen hat.
Diese Männer verbindet alle eins: Ein Buch, in dessen Mitte sich das Bildnis eines Drachen befindet. Ein Buch, von dem sie nicht wissen, wo es herkommt, dass einfach ihrem Schreibtisch platziert war. Im Laufe der Geschichte finden sich fünf solcher Bücher und alle Menschen, die eines finden, sind auf irgendeine Art und Weise mit der Suche nach dem Grab Draculas beschäftigt.
Pauls Tochter findet die Briefe ihres Vaters, die er ihrer Mutter Helen geschrieben hat. Das Mädchen kann sich nicht an ihre Mutter erinnern, diese verschwand, als das Mädchen noch ein Baby war.
So entfalte sich die Geschichte in Briefen, geschrieben 1930, 1954, die Tochter blickt aus dem Jahr 1972 zurück  auf diese Ereignisse.
Man muss bedenken, dass in den 50er Jahren der kalte Krieg herrschte. Eine Reise in den Ostblock war nicht einfach, man brauchte Geld und Beziehungen, um nach Rumänien oder Ungarn reisen zu können. Zum Glück hat Helens Tante Beziehungen und kann ihnen eine Genehmigung für Ungarn besorgen, wo Helens Mutter mittlerweile lebt. Sie ist es, die Helen die Briefe Rossis übergibt, aus den wir die Einzelheiten aus den 30er Jahren erfahren. Rossi hat diese Briefe in Rumänien verloren und Helens Mutter hat sie aufbewahrt, ohne ihren Inhalt zu kennen, da sie des englischen nicht mächtig war. So hat sie nie erfahren, wie tief Rossi Liebe zu ihr war und dass er auf jeden Fall zu ihr zurückkehren wollte.
Ich liebe Dracula von Bram Stoker und habe auch einige Romane über Vlad, den Pfähler gelesen aber keines der Bücher war so detailliert, wie dieses. Da ich einige Jahre in Istanbul gewohnt habe, konnte ich den dortigen Ereignissen sehr gut folgen. Die Schwierigkeit, in den 50er Jahren von dort nach Bulgarien zu reisen, kann ich mir gut vorstellen. Überall finden Helen und Rossi, deren Reisen den größten Teil des Romans ausmachen, Freunde, die sich ebenfalls mit der Legende des Fürsten beschäftigen.
Immer mehr Hinweise finden sich, dass das Grab des Fürsten sich nicht dort befindet, wo die Historiker vermuten.
Die Reisen des Mädchens sind nur ein Bindeglied zwischen Rossis und Pauls Geschichte, sie hat nur wenig Anteil an der Geschichte.

Was das Lesen dieses Romans so schwierig macht ist seine Art. Wie bei einer Matroschka, gibt es eine Geschichte, in der Geschichte, in der Geschichte…in Form von Briefen, Reiseberichten, historischen Dokumenten und mündlichen Erzählungen, so dass man immer wieder erst zum Ursprung zurückfinden muss. Es ist also kein Buch, dass man nebenher lesen kann. Aber ein Buch, dass sehr lehrreich ist, wundervolle Landschaften schildert und Charaktere beinhaltet, die einem ans Herz wachsen. Länder, deren Gastfreundschaft legendär ist, die wir heute ohne Probleme bereisen können, die eine Fülle von Historie aufweisen und in denen sich bis heute nicht sehr viel geändert hat.

 
Fazit:
Wer nicht nur Bram Stokers Dracula lesen möchte, sondern Lust hat mehr über diese grausamen aber faszinierenden Fürsten zu erfahren, jemand, der sich nicht scheut, 800 Seiten zu lesen, der erfährt eine faszinierende Geschichte. Ich bin froh, dass ich durchgehalten habe, denn die Erzählung weist auch einige Überraschungen auf. Nie war Geschichte interessanter.
 
Titel: Der Historiker
Autorin: Elizabeth Kostova
Verlag: Weltbild, Softcover, 825 Seiten
ISBN: 9783828994287

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