Will Raven hat sich, aus eigener Kraft und einem etwas geschönten Lebenslauf, aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet und erhält eine Stelle als Famulus bei dem berühmten und angesehenen Professor Dr. Simpson, einer Koryphäe auf dem Gebiet der Geburtshilfe.
Einen Tag, bevor er das düstere Viertel, in dem er bisher wohnt, verlassen will, findet er die Leiche seiner Freundin Evie, einer Prostituierten. Sie liegt mit stark verenkten Gliedern und schmerzverzerrtem Gesicht in ihrem Zimmer. Raven flieht, als er die Leiche findet, er möchte nicht in eine Mordermittlung verstrickt werden, die seine Karrierepläne vereiteln könnten.
Als er aber erfährt, dass noch mehr Frauen im gleichen Zustand gefunden werden, plagt ihn ein schlechtes Gewissen und zusammen mit dem Hausmädchen Sarah, versucht er, herauszufinden, an was die Frauen gestorben sind.
Kommentar:
Ich lese gerne viktorianische Krimis, vorzugsweise
welche, die in London spielen. Aber ich muss zugeben, Edinburgh läuft London
langsam den Rang ab.
Das faszinierende an diesem Krimi ist für mich, dass
keine Ermittler eine Hauptrolle spielen, sondern zwei Charaktere, die von der
höheren Gesellschaft gerne übersehen oder ignoriert werden.
Will Raven hat sich buchstäblich aus der Gosse
hochgearbeitet. Nachdem sein Vater gestorben ist, zieht seine Mutter wieder zu
ihrem Bruder, einem verknöcherten, bigotten Anwalt, der sich immerhin dazu
herablässt, dem Neffen das Schulgeld zu bezahlen. Raven weiß, dass seine Mutter
sich dafür vor ihrem Bruder erniedrigen muss, der ihr täglich vorwirft, dass
sie einen Nichtsnutz geheiratet hat und jetzt einen Nichtsnutz groß zieht.
Raven träumt davon, ein bekannter Arzt zu werden und
seiner Mutter ein Heim bieten zu können Der Weg dahin ist weit und auch sehr
schmerzhaft, wie er erfahren muss. Er hat bei einem Geldverleiher Schulden
angehäuft, die er nicht zurückzahlen kann. So ist der Umzug in Dr. Simpsons
Haus auch gleichzeitig eine Flucht vor den Geldeintreibern.
Sarah arbeitet als Dienstmädchen im Haus der Simpsons.
Sie liest gerne und träumt davon, einer sinnvolleren Tätigkeit nachzugehen. Im
Jahre 1847 für eine Frau unvorstellbar. Immer und immer wieder muss sie sich
anhören, dass ihr Verhalten und ihre Ambitionen sich nicht ziemen. Frauen sind
lediglich das schmückendes Beiwerk eines Mannes oder Gebärmaschinen, Wünsche,
Träume, Glück oder wahre Liebe sind nicht von Belang.
Das erste Aufeinandertreffen zwischen Sarah und Raven
läuft nicht besonders gut. Sarah hilft schon seit längerem in der
Hausarztpraxis ihres Arbeitgebers, die sich im Wohnhaus befindet. Keine
Seltenheit zur damaligen Zeit. Ihren Haushaltspflichten kommt sie nur
oberflächlich nach, um mehr Zeit mit den Patienten verbringen zu können. Daher
kennt sie Gepflogenheiten und Launen des Arztes und seiner Helfer sehr genau
und stellt Raven am ersten Tag bloß. Etwas, was er nicht so schnell verzeihen
kann.
Sie ist es, die ihm von dem verschwundenen Hausmädchen
Rose erzählt, deren Leiche später im gleichen Zustand aufgefunden wird wie
Evies. Raven kann niemandem sagen, warum er so an dem Todesfall interessiert
ist, Sarah kommt aber nach und nach dahinter.
Der Autor schildert die Zustände im Jahre 1847 sehr
eindringlich und lebhaft, seine Protagonisten sind keine reichen Schnösel oder
knallharte Ermittler sondern zwei Menschen, die aus der unteren
Gesellschaftsschicht kommen und kaum eine Möglichkeit haben, jemals in eine
andere Schicht aufzusteigen. Man muss schon über ein so begnadetes Talent
verfügen wie Dr.Simpson, um sich einen Namen zu machen. Die Einzelheiten der
Geburtshilfe sind teilweise erschreckend zu lesen, die Zahl der Todgeburten ist
hoch, auf Hygiene wird kaum Wert gelegt. Dr.Simpson ist einer der wenigen
Ärzte, der Äther anwendet, um den Patientinnen den Schmerz zu ersparen. Es gibt
allerdings viele Gegner dieses Betäubungsmittels und das Pro und Contra
schildert der Autor sehr eindringlich. Viele Forscher und angehende Ärzte
suchen fieberhaft nach einer Alternative, die den Patienten Schmerz und Leid
ersparen würde. Mich hat dieses Thema unglaublich gefesselt und man erkennt
erst bei der Schilderung der Operationen, wie gut es uns heute geht.
Es handelt sich nicht um einen knallharten Thriller oder
actionreichen Krimi, die Geschichte entwickelt sich langsam der Autor nimmt
sich Zeit, seine Charaktere vorzustellen und sie sich entwickeln zu
lassen. Das gibt diesem Roman eine
Glaubwürdigkeit, die man eher selten findet. Und beide Hauptfiguren stehen
stets vor der drohenden Gefahr, ihre Stelle zu verlieren, was in der damaligen
Zeit ein abrutschen in die Armut bedeutet.
Ich habe die negativen Kritiken zu dem Buch gelesen, von
denen sich einige ja auf die schlechte Version des Hörbuches beziehen. Die
anderen Negativbewerter monieren die fehlende Spannung und die Ausflüge in die
wissenschaftlichen Gefilde. Was jemand an Spannung erwartet ist ja sicherlich
subjektiv aber die Ausflüge in die Medizin und Wissenschaft fand ich durchaus
lesenswert und spannend. Mich hat es etwas an den Roman »die Einkreisung«
erinnert, in dem ja auch viele Menschen den wissenschaftlichen Erkenntnissen
skeptisch gegenüber stehen und innovative Ideen verworfen werden. Aber wo wären wir heute ohne diese
wagemutigen ForscherInnen.
Fazit:
Für mich ein spannender viktorianischer Krimi, der sich
aus der Masse heraushebt und die damalige Zeit ungeschönt schildert. Dazu
gehört eben auch das Bild der Frau auch wenn viele männliche Rezensenten, das
negativ bewerten und die geschilderten Szenen als überflüssig betrachten. Aber
für mich gehört das zum Sittenbild der damaligen Zeit.
Titel: Die Tinktur des Todes
Autor ( ja ich weiß, es ist ein Duo) Ambrose Perry
Verlag: Pendo Verlag, Softcover, 457 Seiten
ISBN: 9783866124721
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