Heute
mache ich etwas, was ich bei einer Rezension sehr selten mache. Ich kopiere den
Klappentext des Buches, denn der Versuch einer kurzen Zusammenfassung der
Geschichte erweist sich als aussichtslos:
Sechs
Lebenswege, die sich unmöglich kreuzen können: darunter ein amerikanischer
Anwalt, der um 1849 Ozeanien erforscht, ein britischer Komponist, der 1931 vor
seinen Gläubigern nach Belgien flieht, und ein koreanischer Klon, der in der
Zukunft wegen des Verbrechens angeklagt wird, ein Mensch sein zu wollen. Und
dennoch sind diese Geschichten miteinander verwoben. Mitchells originelle
Menschheitsgeschichte katapultiert den Leser durch Räume, Zeiten, Genres und
Erzählstile und liest sich dabei so leicht und fesselnd wie ein Abenteuerroman.
Ich
habe den Film gesehen, als er 2011 in die Kinos kam und war absolut begeistert.
Das Buch habe ich mir erst später zugelegt, dann ist es aber in meinem SUB
verschwunden. Das mag zum Teil daran gelegen haben, dass viele das Buch als
unlesbar bezeichnet haben. Und wieder habe ich gelernt »bilde dir dein eigenes
Urteil«, denn das Buch hat mich wesentlich mehr gefangen genommen als der Film.
Ja, es ist sehr schwierig zu lesen, vor allem die Abschnitte von Ewing und Zachry.
Aber es sind auch sie spannendsten Kapitel dieses Buches. Ich werde jede der
sechs Personen vorstellen und einen kurzen Vergleich zwischen Film und Buch
ziehen. Den Film habe ich mir nach dem lesen des Buches nochmals angeschaut und
im Vergleich verlor er tatsächlich etwas von seiner Faszination.
Adam
Ewing ist ein junger, amerikanischer Anwalt, der Mitte des 19. Jahrhunderts für
einen Auftrag nach Ozeanien reist. Unfreiwillig rettet er einem jungen Sklaven
das Leben, der von den Chatham- Inseln auf den Segler flüchtet, auf dem der
junge Anwalt reist. Der Inder versteckt sich in der Kajüte von Adam und bittet
ihn um Hilfe. Obwohl Adam weiß, wie menschenfeindlich der Kapitän der Prophetess eingestellt ist und wie
brutal er sein kann, verbürgt er sich für Autua. Auf seiner langen Seereise
beginnt der Amerikaner, die Welt und die Menschen langsam mit anderen Augen zu
betrachten. Als ihn eine schwere Krankheit ereilt, steht ihm Dr.Henry Goose zur
Seite, den er auf den Chatham-Inseln kennengelernt hat und der sich
entschlossen hat, sich auf der Prophetess
als Schiffsarzt zu verdingen.
Das
Kapitel ist etwas schwierig zu lesen, da Stil und Schreibweise des 19.
Jahrhunderts eingehalten werden. Es klingt seltsam altmodisch, besitzt aber
einen eigenen Charme. Dieser Part des Buches ist wesentlich ausführlicher als
im Film. Der Sinneswandel des jungen Anwalts entwickelt sich hier langsam aber
stetig, die verschiedenen Stationen seiner Reise machen deutlich, dass das
Leben weitaus härter und grausamer ist, als er es sich je vorstellen konnte. Die
Behandlung der Sklaven, seien es Inder, Afrikaner oder australische Ureinwohner,
erschüttert ihn zutiefst. Im Film kommt das nicht so deutlich heraus, dafür ist
das Ende des Films überzeugender als im Buch.
In
den 30er Jahren. Robert Frobisher ist ein junger, talentierter Komponist. Von
der Familie verstoßen, hoch verschuldet und immer auf der Flucht vor seinen
Gläubigern, reist er mit seinem letzten Geld nach Zedelghem in Belgien. Dort
hofft er, von dem berühmten englischen Komponisten, Vyvyan Ayrs, als Schüler aufgenommen
zu werden. Der alternde Komponist lebt mittlerweile wie ein Einsiedler westlich
von Brügge auf einem Landsitz und ist schwer erkrankt. Roberts Traum wird wahr,
der Musiker nimmt sich es jungen Mannes an, frisst aber förmlich dessen Talent
auf. Nichtsdestotrotz gelingt dem Robert eine unglaublich eindringliche
Komposition: Das Wolkenatlas – Sextett.
Hier
gewinnt für mich der Film. Es wurde einiges an Details geändert, was ich aber
für vorteilhaft halte. Denn das Leben auf dem Landsitz und die täglichen Intrigen,
die das Leben dort abwechslungsreicher gestalten, werden in dem Buch sehr
ausführlich geschildert. Wichtig ist die Liebe zwischen Robert Frobisher und Rufus
Sixsmith, die in beiden Medien sehr deutlich wird. Dieser Abschnitt des Buches
besteht aus Briefen, die Robert an seinen Geliebten Rufus schreibt.
Mittlereile
schreiben wir die 70er Jahre. Luisa Rey ist die Tochter eines berühmten
Reporters und möchte ihrem Vater alle Ehre machen. Leider hat sie es bisher
lediglich zur Kolumnistin eines Magazins namens Spyglass gebracht, das nur über Klatsch, Pleiten. Pech und Pannen
berichtet. Zufällig begegnet sie in einem Fahrstuhl Dr. Rufus Sixmith und als
der Fahrstuhl steckenbleibt kommen die beiden ins Gespräch. Rufus Sixmith
kannte den Vater der jungen Frau, er fasst Vertrauen zu ihr und möchte ihr ein
Geheimnis anvertrauen. Bevor es jedoch dazu kommt, fährt der Fahrstuhl wieder
und der alte Herr verzagt. Als die Zeitungen einen Tag später über den Selbstmord
des berühmten Wissenschaftlers Sixsmith berichten, wird Luisa neugierig. Diese
Neugier kostet sie fast das Leben, denn sie kommt einen Skandal auf die Spur,
dessen Ausmaß ganz Amerika erschüttern könnte. Sie findet die Briefe, die
Robert Frobisher an Rufus Sixsmith geschrieben hat und begibt sich auf die
Suche nach dem Wolkenatlas – Sextett.
Hier
gewinnt eindeutig das Buch. Das Kapitel ist wesentlich ausführlicher als im
Film, meines Erachtens ist das aber auch notwendig. Die Gefahr erwächst
schleichend, Luisa entkommt nicht nur einem Anschlag auf ihr Leben sondern
mehreren. Der Attentäter schleust sich hier sogar in ihre Familie ein, die im
Film überhaupt nicht groß erwähnt wird. Auch Isaac Sachs, der junge
Forschungsingenieur, der mit Rufus Sixsmith zusammengearbeitet hat, bekommt im
Buch deutlich mehr Profil. Er äußert die gleichen Bedenken wie sein Mentor und
wird hier aktiver als im Film.
Weiter
geht sie Reise in das Jahr 2012 und wir lernen Timothy Cavendish kennen, den
nächsten Charakter dieses Buches. Der alternde Verleger träumt stets von dem
EINEN Buch, das er veröffentlichen wird und das ihm endlich den ersehnten
Erfolg als Verleger bringen wird. Aber auch das Manuskript von Dermont »Duster«
Hoggins bringt nicht den gewünschten Erfolg. Es wird von der Presse als billig
und vulgär verrissen, als »Keintagsfliege« und »Totgeburt der modernen
Literatur«.
Als
der Autor dieses Machwerks den Rezensenten auf einer Cocktailparty plötzlich
vor allen Gästen aus dem Fenster schmeißt, beschert es dem Buch einen
unglaublichen Erfolg. Jeder möchte die Autobiographie des durchgeknallten und
verkannten Genies lesen und Timothy Cavendishs Traum wird wahr. Da Hoggins ihm
alle Rechte an das Buch abgetreten hat, fließt das Geld in die Taschen des
Verlegers. Allerdings hat Timothy nicht bedacht, dass Hoggins aus einer großen
Familie stammt und zahlreiche Brüder hat, die nun das Geld von dem Verleger
einfordern, wenn nötig, mit brutaler Gewalt. Also bleibt Timothy nichts anders
übrig als zu flüchten, da er die geforderte Summe nicht aufbringen kann. In
seiner Not wendet sich Cavendish an seinen Bruder, der ihm ein abgelegenes
Hotel empfiehlt, wo Timothy sich verstecken kann, bis Gras über die Sache
gewachsen ist. Was dann passiert, ist so herrlich amüsant zu lesen und auch zu
sehen. Bei dieser Geschichte kann ich mich nicht entscheiden, was besser ist.
Die Essenz ist sowohl im Buch als auch im Film gleich, auch hier ist die
geschriebene Fassung ausführlicher, von daher humorvoller. Aber auch die
filmische Umsetzung ist absolut gelungen.
Die
ergreifendste und schönste Erzählung in diesem Buch ist für mich der Abschnitt
über Sonmi-451, später genannt Sonmis Oratio, aus dem Jahre 2144. Sie ein
Dublikant, dazu geschaffen, in einem Restaurant Namens Papa Song zu arbeiten.
Die vierzehn Angestellten des Restaurants kennen nur diese kleine Welt, sie
arbeiten 19 Stunden am Tag ohne Pause, denn Pausen gelten als Zeitdiebstahl.
Duplikanten träumen nicht, sie denken nicht und sie handeln nicht selbständig.
Ihr Dienst ist ihnen Freude, an dessen Ende das Elysium steht. Nach zwölf
Jahren an erfüllter Pflicht dürfen die Angestellten das Restaurant verlassen
und ihr restliches Leben auf einer paradiesischen Insel verbringen. So wird es
ihnen jedenfalls erzählt. Yoona-939 ist
der erste Duplikant, der sich abweichend verhält. Sie erwacht während des
Schlafzyklusses und beginnt, ihre Umgebung zu erforschen. Sie steckt die ängstliche Somni mit ihrer
Neugier an und als Yoona-939 erwischt und eliminiert wird, setzt Sonmi-451 ihre
nächtlichen Exkursionen fort und entwickelt sich immer weiter. Je mehr sie über
die Welt und die Menschen erfährt, desto bewusster wird ihr, dass sie und
Ihresgleichen als Sklaven gehalten werden. Mithilfe einer Gruppe von
Extremisten kann Somni aus dem Papa Song fliehen, doch erst als sie erfährt,
was sich hinter den versprochenen Elysium verbirgt, lässt sie sich vor den
Karren der Revolutionäre spannen.
Hier
gewinnt eindeutig das Buch. Nach den Tagebucheinträgen und den Briefen erlesen
wir uns dieses Kapitel in Form eines Verhörprotokolls. Während des Lesens hatte
ich allerdings stets die Personen aus dem Film vor Augen, Bae Doona spielt
Somni so eindringlich, unschuldig und rührend. Ihr fehlt jegliche Falschheit
und Verderbtheit, sie wirkt rein und kindlich. Es ist keine Naivität, sie ist
ein weißes Blatt Papier, das langsam gefüllt wird. Und auch der Rebell Hae-Joo
Chang spielt sehr, sehr eindringlich und überzeugend. Aber das Buch gewinnt, da
es die Entwicklung von Sonmi wesentlich ausführlicher schildert und wir ihr »Erwachen« intensiver miterleben.
Wie schon in den bisherigen Erzählsträngen,
wird auch hier der Mensch als das schlimmste aller Übel beschrieben.
So
ist es nicht verwunderlich, dass das letzte Kapitel in einer Zeit spielt, die
sich 106. Winter nach dem Untergang nennt.
Nach der Apokalypse leben die Menschen wieder einfach und primitiv. Zwar
gibt es Überreste der Zivilisation aber von den einfachen Stämmen, die sich
gebildet haben, werden sie nicht genutzt. Zachry ist ein einfacher Ziegenhirte.
Seine Geschichte unterscheidet sich von Buch zu Film sehr garvierend. Im Buch
erlebt er als kleiner Junge die Ermordung seines Vaters und die Entführung
seines Bruders Adam durch den Stamm der brutalen Kona mit. Im Film ist er schon
ein reifer Mann, daher wirken seine Gewissensbisse im Film glaubhafter. Einmal
im Jahr kommen Angehörige des technisierten Volks der „Prescients“ in die
Gegend der primitiven Stämme, um Handel zu treiben. Meronym, eine (im Buch eine
ältere im Film eine jüngere) Prescients, entschließt sich, ein Jahr bei dem
Stamm von Zachry zu verbringen. Der junge Mann lehnt die Frau zuerst ab, da er
befürchtet, dass sie lediglich zum spionieren gekommen ist. Auch Zachry weiß,
dass viele Teile der Welt verstrahlt und somit unbewohnt sind und neue Kolonien
benötigt werden. Als Meronym seiner kleinen Nichte das Leben rettet, ist Zachry
als Gegenleistung dazu bereit, Meronym auf die Spitze des heiligen Berges zu
führen, wo ein altes Observatorium steht. Für den Stamm ein verbotener Ort, in
dem die Geister ihr Unwesen treiben.
Auch
hier gewinnt für mich eindeutig das Buch, denn die Geschichte von Zachry,
beginnend als kleiner Junge, ist glaubhafter geschildert. Allerdings ist dieser
Teil sehr schwer zu lesen, da sich die Sprache zurück entwickelt hat. Hier ein
Beispiel von Seite 335 »Na, das wars jednfalls, was ich mir einredete, aber in
wahr blieb ich wegen Roses, nem Mädchen, wo da oben Palilablätter gesammelt
hatte für ihre Ma zum Medizin machen. Wir warn nemmich mächtich jieprich
aufnander.
Der
Inkarnationsgedanke verknüpft alle Geschichten miteinander, stets haben die
Charaktere ein Muttermal in Form eines Kometen an ihrem Körper. Im Film kommt
der Gedanke an die Widergeburt besser zum tragen, da die Schauspieler mehrere
Rollen in verschiedenen Epochen verkörpern und somit der Zusammenhang
ersichtlicher wird.
Erschreckend
ist das Ausmaß der hier geschilderten
Unmenschlichkeit des Menschen, die sich durch alle Epochen zieht und
letztendlich zum Untergang der Zivilisation führt. Eine der unsympathischsten
Figuren dieses Buches, Dr. Henry Goose, kleidet diesen Umstand am besten in
Worte: » Die Schwachen sind der Braten, an dem die Starken guth geraten.« und » weil, Prediger, unter allen Rassen der
Welt unser Streben – oder sagen wir besser unsere Gier – nach Schätzen, Gold,
Specereyen und Macht, ach, vor allem nach der süßen Macht, am größten,
unersättlichsten und scrupellosesten ist. Diese Gier treibt unseren Fortschritt
an. «
Ebenfalls
sehr deutlich ist die Aussage von Veronica, an Timothy Cavendish gerichtet: »Ach,
wenn sie erst einmal feierlich in den Kreis der Alten aufgenommen sind, will
die Welt sie nicht zurück haben. «
Eine
grausame und bittere Wahrheit, die auch heute noch gilt, alte Menschen werden
auf das Abstellgleis geschoben, entmündigt und ihrer Würde beraubt.
Abschließen
möchte ich mit der Erzählung von Zachry und einem Satz von Adam:
»
aber wer weiß, was eines Tages sein wird. «
»Eines
Tages war für uns ne Hoffnung so winzich wie n Floh.«
»Ja,
erinner ich mich Meronym sagen aber Flöhe wirst du nich so leicht los.«
»Du
wirst begreifen, dass dein Leben nicht mehr gewesen ist als ein Tropfen in
einem grenzenlosen Ocean. Was aber ist ein Ocean anders als eine Vielzahl von
Tropfen?«
Fazit:
Das Buch ist nicht leicht zu lesen, war für mich aber das überzeugendere
Medium. Trotzdem bleibt es einer meiner Lieblingsfilme und ich denke, ohne den
Film und dessen Staraufgebot, hätte das Buch auf dem deutschen Mann kaum Erfolg
gehabt. Für Volker Oldenburg als Übersetzer war es sicher keine leichte
Aufgabe, diese einzelnen Epochen und ihre sprachlichen Feinheiten in unsere
Sprache zu übertragen. Ein dickes Lob an ihn.
Titel:
Cloud Atlas – Der Wolkenatlas
Autor:
David Mitchell
Verlag:
rororo, TB, 667 Seiten
ISBN:
9783499241413
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