15 Februar 2020

Cloud Atlas - Der Wolkenatlas von David Mitchell Buch vs. Film



Heute mache ich etwas, was ich bei einer Rezension sehr selten mache. Ich kopiere den Klappentext des Buches, denn der Versuch einer kurzen Zusammenfassung der Geschichte erweist sich als aussichtslos:
Sechs Lebenswege, die sich unmöglich kreuzen können: darunter ein amerikanischer Anwalt, der um 1849 Ozeanien erforscht, ein britischer Komponist, der 1931 vor seinen Gläubigern nach Belgien flieht, und ein koreanischer Klon, der in der Zukunft wegen des Verbrechens angeklagt wird, ein Mensch sein zu wollen. Und dennoch sind diese Geschichten miteinander verwoben. Mitchells originelle Menschheitsgeschichte katapultiert den Leser durch Räume, Zeiten, Genres und Erzählstile und liest sich dabei so leicht und fesselnd wie ein Abenteuerroman.

Ich habe den Film gesehen, als er 2011 in die Kinos kam und war absolut begeistert. Das Buch habe ich mir erst später zugelegt, dann ist es aber in meinem SUB verschwunden. Das mag zum Teil daran gelegen haben, dass viele das Buch als unlesbar bezeichnet haben. Und wieder habe ich gelernt »bilde dir dein eigenes Urteil«, denn das Buch hat mich wesentlich mehr gefangen genommen als der Film. Ja, es ist sehr schwierig zu lesen, vor allem die Abschnitte von Ewing und Zachry. Aber es sind auch sie spannendsten Kapitel dieses Buches. Ich werde jede der sechs Personen vorstellen und einen kurzen Vergleich zwischen Film und Buch ziehen. Den Film habe ich mir nach dem lesen des Buches nochmals angeschaut und im Vergleich verlor er tatsächlich etwas von seiner Faszination.


Adam Ewing ist ein junger, amerikanischer Anwalt, der Mitte des 19. Jahrhunderts für einen Auftrag nach Ozeanien reist. Unfreiwillig rettet er einem jungen Sklaven das Leben, der von den Chatham- Inseln auf den Segler flüchtet, auf dem der junge Anwalt reist. Der Inder versteckt sich in der Kajüte von Adam und bittet ihn um Hilfe. Obwohl Adam weiß, wie menschenfeindlich der Kapitän der Prophetess eingestellt ist und wie brutal er sein kann, verbürgt er sich für Autua. Auf seiner langen Seereise beginnt der Amerikaner, die Welt und die Menschen langsam mit anderen Augen zu betrachten. Als ihn eine schwere Krankheit ereilt, steht ihm Dr.Henry Goose zur Seite, den er auf den Chatham-Inseln kennengelernt hat und der sich entschlossen hat, sich auf der Prophetess als Schiffsarzt zu verdingen.
Das Kapitel ist etwas schwierig zu lesen, da Stil und Schreibweise des 19. Jahrhunderts eingehalten werden. Es klingt seltsam altmodisch, besitzt aber einen eigenen Charme. Dieser Part des Buches ist wesentlich ausführlicher als im Film. Der Sinneswandel des jungen Anwalts entwickelt sich hier langsam aber stetig, die verschiedenen Stationen seiner Reise machen deutlich, dass das Leben weitaus härter und grausamer ist, als er es sich je vorstellen konnte. Die Behandlung der Sklaven, seien es Inder, Afrikaner oder australische Ureinwohner, erschüttert ihn zutiefst. Im Film kommt das nicht so deutlich heraus, dafür ist das Ende des Films überzeugender als im Buch.

In den 30er Jahren. Robert Frobisher ist ein junger, talentierter Komponist. Von der Familie verstoßen, hoch verschuldet und immer auf der Flucht vor seinen Gläubigern, reist er mit seinem letzten Geld nach Zedelghem in Belgien. Dort hofft er, von dem berühmten englischen Komponisten, Vyvyan Ayrs, als Schüler aufgenommen zu werden. Der alternde Komponist lebt mittlerweile wie ein Einsiedler westlich von Brügge auf einem Landsitz und ist schwer erkrankt. Roberts Traum wird wahr, der Musiker nimmt sich es jungen Mannes an, frisst aber förmlich dessen Talent auf. Nichtsdestotrotz gelingt dem Robert eine unglaublich eindringliche Komposition: Das Wolkenatlas – Sextett.
Hier gewinnt für mich der Film. Es wurde einiges an Details geändert, was ich aber für vorteilhaft halte. Denn das Leben auf dem Landsitz und die täglichen Intrigen, die das Leben dort abwechslungsreicher gestalten, werden in dem Buch sehr ausführlich geschildert. Wichtig ist die Liebe zwischen Robert Frobisher und Rufus Sixsmith, die in beiden Medien sehr deutlich wird. Dieser Abschnitt des Buches besteht aus Briefen, die Robert an seinen Geliebten Rufus schreibt.

Mittlereile schreiben wir die 70er Jahre. Luisa Rey ist die Tochter eines berühmten Reporters und möchte ihrem Vater alle Ehre machen. Leider hat sie es bisher lediglich zur Kolumnistin eines Magazins namens Spyglass gebracht, das  nur über Klatsch, Pleiten. Pech und Pannen berichtet. Zufällig begegnet sie in einem Fahrstuhl Dr. Rufus Sixmith und als der Fahrstuhl steckenbleibt kommen die beiden ins Gespräch. Rufus Sixmith kannte den Vater der jungen Frau, er fasst Vertrauen zu ihr und möchte ihr ein Geheimnis anvertrauen. Bevor es jedoch dazu kommt, fährt der Fahrstuhl wieder und der alte Herr verzagt. Als die Zeitungen einen Tag später über den Selbstmord des berühmten Wissenschaftlers Sixsmith berichten, wird Luisa neugierig. Diese Neugier kostet sie fast das Leben, denn sie kommt einen Skandal auf die Spur, dessen Ausmaß ganz Amerika erschüttern könnte. Sie findet die Briefe, die Robert Frobisher an Rufus Sixsmith geschrieben hat und begibt sich auf die Suche nach dem Wolkenatlas – Sextett.
Hier gewinnt eindeutig das Buch. Das Kapitel ist wesentlich ausführlicher als im Film, meines Erachtens ist das aber auch notwendig. Die Gefahr erwächst schleichend, Luisa entkommt nicht nur einem Anschlag auf ihr Leben sondern mehreren. Der Attentäter schleust sich hier sogar in ihre Familie ein, die im Film überhaupt nicht groß erwähnt wird. Auch Isaac Sachs, der junge Forschungsingenieur, der mit Rufus Sixsmith zusammengearbeitet hat, bekommt im Buch deutlich mehr Profil. Er äußert die gleichen Bedenken wie sein Mentor und wird hier aktiver als im Film.

Weiter geht sie Reise in das Jahr 2012 und wir lernen Timothy Cavendish kennen, den nächsten Charakter dieses Buches. Der alternde Verleger träumt stets von dem EINEN Buch, das er veröffentlichen wird und das ihm endlich den ersehnten Erfolg als Verleger bringen wird. Aber auch das Manuskript von Dermont »Duster« Hoggins bringt nicht den gewünschten Erfolg. Es wird von der Presse als billig und vulgär verrissen, als »Keintagsfliege« und »Totgeburt der modernen Literatur«.
Als der Autor dieses Machwerks den Rezensenten auf einer Cocktailparty plötzlich vor allen Gästen aus dem Fenster schmeißt, beschert es dem Buch einen unglaublichen Erfolg. Jeder möchte die Autobiographie des durchgeknallten und verkannten Genies lesen und Timothy Cavendishs Traum wird wahr. Da Hoggins ihm alle Rechte an das Buch abgetreten hat, fließt das Geld in die Taschen des Verlegers. Allerdings hat Timothy nicht bedacht, dass Hoggins aus einer großen Familie stammt und zahlreiche Brüder hat, die nun das Geld von dem Verleger einfordern, wenn nötig, mit brutaler Gewalt. Also bleibt Timothy nichts anders übrig als zu flüchten, da er die geforderte Summe nicht aufbringen kann. In seiner Not wendet sich Cavendish an seinen Bruder, der ihm ein abgelegenes Hotel empfiehlt, wo Timothy sich verstecken kann, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Was dann passiert, ist so herrlich amüsant zu lesen und auch zu sehen. Bei dieser Geschichte kann ich mich nicht entscheiden, was besser ist. Die Essenz ist sowohl im Buch als auch im Film gleich, auch hier ist die geschriebene Fassung ausführlicher, von daher humorvoller. Aber auch die filmische Umsetzung ist absolut gelungen.

Die ergreifendste und schönste Erzählung in diesem Buch ist für mich der Abschnitt über Sonmi-451, später genannt Sonmis Oratio, aus dem Jahre 2144. Sie ein Dublikant, dazu geschaffen, in einem Restaurant Namens Papa Song zu arbeiten. Die vierzehn Angestellten des Restaurants kennen nur diese kleine Welt, sie arbeiten 19 Stunden am Tag ohne Pause, denn Pausen gelten als Zeitdiebstahl. Duplikanten träumen nicht, sie denken nicht und sie handeln nicht selbständig. Ihr Dienst ist ihnen Freude, an dessen Ende das Elysium steht. Nach zwölf Jahren an erfüllter Pflicht dürfen die Angestellten das Restaurant verlassen und ihr restliches Leben auf einer paradiesischen Insel verbringen. So wird es ihnen   jedenfalls erzählt. Yoona-939 ist der erste Duplikant, der sich abweichend verhält. Sie erwacht während des Schlafzyklusses und beginnt, ihre Umgebung zu erforschen.  Sie steckt die ängstliche Somni mit ihrer Neugier an und als Yoona-939 erwischt und eliminiert wird, setzt Sonmi-451 ihre nächtlichen Exkursionen fort und entwickelt sich immer weiter. Je mehr sie über die Welt und die Menschen erfährt, desto bewusster wird ihr, dass sie und Ihresgleichen als Sklaven gehalten werden. Mithilfe einer Gruppe von Extremisten kann Somni aus dem Papa Song fliehen, doch erst als sie erfährt, was sich hinter den versprochenen Elysium verbirgt, lässt sie sich vor den Karren der Revolutionäre spannen.
Hier gewinnt eindeutig das Buch. Nach den Tagebucheinträgen und den Briefen erlesen wir uns dieses Kapitel in Form eines Verhörprotokolls. Während des Lesens hatte ich allerdings stets die Personen aus dem Film vor Augen, Bae Doona spielt Somni so eindringlich, unschuldig und rührend. Ihr fehlt jegliche Falschheit und Verderbtheit, sie wirkt rein und kindlich. Es ist keine Naivität, sie ist ein weißes Blatt Papier, das langsam gefüllt wird. Und auch der Rebell Hae-Joo Chang spielt sehr, sehr eindringlich und überzeugend. Aber das Buch gewinnt, da es die Entwicklung von Sonmi wesentlich ausführlicher schildert und  wir ihr »Erwachen« intensiver miterleben.

Wie schon in den bisherigen Erzählsträngen, wird auch hier der Mensch als das schlimmste aller Übel beschrieben. 
So ist es nicht verwunderlich, dass das letzte Kapitel in einer Zeit spielt, die sich 106. Winter nach dem Untergang nennt.  Nach der Apokalypse leben die Menschen wieder einfach und primitiv. Zwar gibt es Überreste der Zivilisation aber von den einfachen Stämmen, die sich gebildet haben, werden sie nicht genutzt. Zachry ist ein einfacher Ziegenhirte. Seine Geschichte unterscheidet sich von Buch zu Film sehr garvierend. Im Buch erlebt er als kleiner Junge die Ermordung seines Vaters und die Entführung seines Bruders Adam durch den Stamm der brutalen Kona mit. Im Film ist er schon ein reifer Mann, daher wirken seine Gewissensbisse im Film glaubhafter. Einmal im Jahr kommen Angehörige des technisierten Volks der „Prescients“ in die Gegend der primitiven Stämme, um Handel zu treiben. Meronym, eine (im Buch eine ältere im Film eine jüngere) Prescients, entschließt sich, ein Jahr bei dem Stamm von Zachry zu verbringen. Der junge Mann lehnt die Frau zuerst ab, da er befürchtet, dass sie lediglich zum spionieren gekommen ist. Auch Zachry weiß, dass viele Teile der Welt verstrahlt und somit unbewohnt sind und neue Kolonien benötigt werden. Als Meronym seiner kleinen Nichte das Leben rettet, ist Zachry als Gegenleistung dazu bereit, Meronym auf die Spitze des heiligen Berges zu führen, wo ein altes Observatorium steht. Für den Stamm ein verbotener Ort, in dem die Geister ihr Unwesen treiben.
Auch hier gewinnt für mich eindeutig das Buch, denn die Geschichte von Zachry, beginnend als kleiner Junge, ist glaubhafter geschildert. Allerdings ist dieser Teil sehr schwer zu lesen, da sich die Sprache zurück entwickelt hat. Hier ein Beispiel von Seite 335 »Na, das wars jednfalls, was ich mir einredete, aber in wahr blieb ich wegen Roses, nem Mädchen, wo da oben Palilablätter gesammelt hatte für ihre Ma zum Medizin machen. Wir warn nemmich mächtich jieprich aufnander.
Der Inkarnationsgedanke verknüpft alle Geschichten miteinander, stets haben die Charaktere ein Muttermal in Form eines Kometen an ihrem Körper. Im Film kommt der Gedanke an die Widergeburt besser zum tragen, da die Schauspieler mehrere Rollen in verschiedenen Epochen verkörpern und somit der Zusammenhang ersichtlicher wird.
Erschreckend ist das Ausmaß der hier geschilderten  Unmenschlichkeit des Menschen, die sich durch alle Epochen zieht und letztendlich zum Untergang der Zivilisation führt. Eine der unsympathischsten Figuren dieses Buches, Dr. Henry Goose, kleidet diesen Umstand am besten in Worte: » Die Schwachen sind der Braten, an dem die Starken guth geraten.«  und » weil, Prediger, unter allen Rassen der Welt unser Streben – oder sagen wir besser unsere Gier – nach Schätzen, Gold, Specereyen und Macht, ach, vor allem nach der süßen Macht, am größten, unersättlichsten und scrupellosesten ist. Diese Gier treibt unseren Fortschritt an. «
Ebenfalls sehr deutlich ist die Aussage von Veronica, an Timothy Cavendish gerichtet: »Ach, wenn sie erst einmal feierlich in den Kreis der Alten aufgenommen sind, will die Welt sie nicht zurück haben. «
Eine grausame und bittere Wahrheit, die auch heute noch gilt, alte Menschen werden auf das Abstellgleis geschoben, entmündigt und ihrer Würde beraubt.
Abschließen möchte ich mit der Erzählung von Zachry und einem Satz von Adam:
» aber wer weiß, was eines Tages sein wird. «
»Eines Tages war für uns ne Hoffnung so winzich wie n Floh.«
»Ja, erinner ich mich Meronym sagen aber Flöhe wirst du nich so leicht los.«

»Du wirst begreifen, dass dein Leben nicht mehr gewesen ist als ein Tropfen in einem grenzenlosen Ocean. Was aber ist ein Ocean anders als eine Vielzahl von Tropfen?«

Fazit: Das Buch ist nicht leicht zu lesen, war für mich aber das überzeugendere Medium. Trotzdem bleibt es einer meiner Lieblingsfilme und ich denke, ohne den Film und dessen Staraufgebot, hätte das Buch auf dem deutschen Mann kaum Erfolg gehabt. Für Volker Oldenburg als Übersetzer war es sicher keine leichte Aufgabe, diese einzelnen Epochen und ihre sprachlichen Feinheiten in unsere Sprache zu übertragen. Ein dickes Lob an ihn.
Titel: Cloud Atlas – Der Wolkenatlas
Autor: David Mitchell
Verlag: rororo, TB, 667 Seiten
ISBN: 9783499241413
 

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