17 November 2018

Die Einkreisung von Caleb Carr



Die Geschichte beginnt mit der Beerdigung Theodore Roosevelts. John Schyler Moore ist Polizeireporter bei der New York Times und einer der trauernden Gäste. Roosevelt war sein Freund und Vorbild, einer der tapfersten und integersten Menschen, die John kannte. Die Ehrlichkeit und Charakterstärke des verstorbenen Präsidenten machte ihn nicht nur zu einem rechtschaffenen Führer der USA. Zu Beginn seines Aufstiegs war Roosevelt Commissioner der New Yorker Polizei.
Der Reporter erinnert sich an einen erschütternden Fall, einer Mordserie an kleinen Jungen, die in Freudenhäusern arbeiteten. Roosevelt war an der Aufklärung beteiligt und räumte dem außergewöhnlichen Ermittlerteam alle Schwierigkeiten aus dem Weg, damit sie den Mörder fassen konnten. 


Kopf dieses Teams war Dr. Laszlo Kreisler, eine Koryphäe auf dem Gebiet der forensischen Psychologie, der mit seinen innovativen Ideen und dem Verständnis der menschlichen Psyche seine Mitstreiter oft an die Grenzen ihres Verstandes und ihres Vorstellungsvermögens brachte.
Ihm zu Seite standen die tapfere Sara Howard, einen junge Frau, die sich den Konventionen der Gesellschaft nicht beugen möchte. Und die Brüder Isaacson. Marcus Isaacson hat Kriminalwissenschaften studiert, sein Bruder Lucius Gerichtsmedizin. Damit sind die beiden Polizisten durch ihre Bildung und ihren jüdischen Glauben zwei Außenseiter im Polizeidienst, die neue Wege nicht scheuen und neuartige Ermittlungsmethoden auszuprobieren bereit sind. John verfügt durch seine Tätigkeit als Reporter über viele Kontakte, unter anderem zur New Yorker Unterwelt. Zu dieser Truppe gesellen sich noch Cyrus Montrose und Stevie Taggert. Beide arbeiten im Haus des Doktors und stehen ihm in allen Belangen treu zur Seite.
Das New York des Jahres 1896 ist ein Moloch. Einwanderer aus den europäischen Ländern überfluten die Stadt, sie wächst ungebremst. New York ist ein Schmelztiegel vieler Nationen. Armut und Elend sind das alltägliche Bild, die Verbrechensrate steigt ins unermessliche. Statt die Verbrechen zu bekämpfen und Hilfe zu leisten, hält die Polizei die Hand auf und bereichert sich an dem Elend ihrer Mitmenschen. Bildung und die sozialen Umstände liegen auf dem untersten Niveau. Daher begegnet man dem neuen Commissioner mit Hass und Misstrauen. Roosevelt möchte die alten, vertrockneten Strukturen und Seilschaften aufbrechen und moderne Erkenntnisse und Wissenschaften als Ermittlungsmethoden einführen. Viele kritisieren ihn auf Grund dessen und legen ihm Steine in den Weg. Die Sonderkommission um Dr. Kreisler muss daher im geheimen operieren.
Zitat: "Roosevelt ließ nicht nur jeden einzelnen Polizisten auf Herz und Nieren durchleuchten und zwang dadurch viele zur Kündigung, er bestand auch auf die Aufnahme von Menschen aus bisher kaum berücksichtigten Gruppen, um dadurch die Macht von Cliquen und "Stammesführern" wie Thomas Byrnes und anderen zu brechen."
Die Truppe ermittelt "rückwärts". Da sie von dem Täter nichts wissen, versuchen sie auf Grund der Opfer, den Tatorten und der zeitlichen Abfolge der Morde Rückschlüsse auf den Täter zu ziehen. Warum vergreift er sich nur an jungen, männlichen Prostituierten? Warum legt er die Leichen immer in der von fließenden Wasser ab? Welche Bedeutung haben die Tage, an denen er mordet und was bestimmt den zeitlichen Abstand? Diese Ermittlungsmethode ist sehr mühsam und erfordert viel Recherche und Kleinarbeit und führt die Freunde oft an ihre Grenzen.  Sie bedienen sich bisher nicht anerkannter wissenschaftlicher Methoden, wie der Handschriftenanalyse oder der Psychoanalyse.
Zitat:" Von jetzt an, sagte er (Dr. Kreisler), müssten wir sämtliche vorgefassten Meinungen über menschliches Verhalten über Bord werfen. Wir dürften die Welt nicht mehr durch unsere eigenen Augen sehen, sie nicht mehr nach unseren eigenen Werten beurteilen, sondern müssten in die Haut des Mörders schlüpfen."
Es ist sehr interessant zu lesen, gegen welche Widerstände die Ermittler damals zu kämpfen hatten. Was heute selbstverständlich und reine Routine ist, wurde damals als Scharlatanerie abgetan, niemand konnte sich vorstellen, dass diese neuen Methoden jemals zur alltäglichen Polizeiarbeit gehören werden. Zur Beweisführung vor Gericht konnten die auf diese neuartige Weise gewonnen Erkenntnisse nicht vorgebracht werden, da kein Richter sie anerkannte. So blieb Dr. Kreisler und seinem Team nur die Hoffnung, sich dem  Mörder immer mehr zu nähern, so dass sich dieser dann verrät oder eindeutige Beweise am Tatort zurück lässt.
Zitat: "Da haben Sie wahrscheinlich recht. Und das erklärt auch, warum die Charakteranalyse über die Handschrift auch nicht als Wissenschaft anerkannt ist.
Das Bild, welches der Autor zeichnet, ist erschreckend. Unvorstellbar, dass aus diesem Sündenpfuhl des Jahres 1896 heute eine der schönsten und interessanten Städte der Welt geworden ist. Sicherlich gibt es auch heute noch eine Unzahl von Verbrechen. Doch die Schilderung des Elends und der Armut ist bedrückend. Kinderprostitution, Drogenhandel, Mord und Totschlag fand vor den Augen der Polizei und der Öffentlichkeit statt, die ihre Augen verschloss, die Hand aufhielt oder Angesicht der Brutalität einfach nur hilflos war. Die Banden, die New York unter sich aufgeteilt hatten, waren stark und schafften es immer wieder, Polizisten durch Drohungen oder auch Anwendung von Gewalt einzuschüchtern. Kinder waren die begehrten Opfer dieser Banden. Oftmals ging es den Jungen und Mädchen besser als zu Hause, sie bekamen keine Schläge, hatten ein Dach über den Kopf und bekamen genug zu essen. Da kam ihnen der Verkauf ihres Körpers oft als das kleinere Übel vor.
Zitat: "So traurig es war, so hatte ich doch gegen Josephs Entscheidung keine Einspruchsmöglichkeit. Im Jahre 1896 konnte man nicht über den Kopf des Jungen hinweg irgendeine Regierungsbehörde, wie sie in den letzten Jahren geschaffen wurden, dazu bewegen, ihn gewaltsam aus dem "Golden Rule" zu entfernen. Damals hatte die amerikanische Gesellschaft noch nicht erkannt, (und auch heute ist das noch nicht allen klar) dass Kinder für ihre Handlungen nicht voll verantwortlich sind. Man hielt Kinder damals für kleine Erwachsene. Wenn sie ihr Leben dem Laster widmen wollte, dann war das nach den Gesetzen von 1896 ihre Sache und niemand konnte sie davon abhalten."
Obwohl die Handlung teilweise etwas langatmig war, vermochte mich die Geschichte dennoch zu fesseln.  Während der Ermittlungen wächst das Team zusammen, bildet eine Front gegen die Ignoranz und die Angst ihrer Mitmenschen. Sie öffnen ihren Geist für diese neuen Ideen und betreten bisher unbekannte Pfade der Ermittlungsarbeit. Der immense Aufwand ist für uns kaum noch vorstellbar, setzen wir uns doch einfach an einen Computer, um Recherche zu betreiben oder rufen an, wenn wir Informationen brauchen.  Hier sind die Freunde oft tagelang unterwegs, um einer Spur nachzugehen, die dann doch letztendlich ins Leere führt.
Für mich war es ein sehr spannendes Buch und ich freue mich, dass diese Geschichte nun als Serie verfilmt wurde, mit Daniel Brühl als Dr. Kreisler. Daher gibt es mittlerweile auch eine Neuauflage des Buches, ebenfalls von Heyne.
Titel: Die Einkreisung
Autor: Caleb Carr
Verlag: Heyne, TB von 1994,
ISBN: 9783453099311

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