London
im zweiten Weltkrieg. Die Mutter des 12 jährigen David ist todkrank. Als sie
stirbt und der Vater eine neue Beziehung eingeht, fühlt sich der Junge einsam
und verlassen. Zumal er sich die Schuld an dem Tod seiner Mutter gibt. Um den
Bombenangriffen über London zu entgehen, zieht die Familie in ein altes Haus
auf dem Land. Dort erhält David ein eigenes Zimmer, voll mit alten Büchern
seines Vorbesitzers. Ein Paradies für einen einsamen Jungen, der seine
Stiefmutter nicht leiden kann und neidisch auf die Aufmerksamkeiten ist, die
sein kleiner Bruder erhält. Obwohl Rose,
die neue Frau seines Vaters, alles unternimmt, um David in die Familie mit
einzubeziehen, hasst David sie und weigert sich, sie zu akzeptieren. Er
flüchtet sich in eine Welt aus Büchern. Dies geht so weit, dass er die Bücher
flüstern hört und teilweise den Bezug zur Realität verliert und bewusstlos
wird. Ärzte finden keine Ursache für diese Ohnmachtsanfälle und sehen die
Ursache in dem Verlust der Mutter und seiner Trauer.
Bald sieht er auch Personen, die niemand anders wahrnimmt und hört überall ein wispern und flüstern, bald fühlt er sich in seinem eigenen Zimmer bedroht. Nach einem Streit mit seiner Stiefmutter Rose, bei dem sich sein Vater auf ihre Seite stellt, bekommt David Hausarrest und Bücherverbot. Diese Ungerechtigkeit treibt ihn zu einer unbedachten Handlung und er findet sich plötzlich in der Welt seiner Ängste und Träume wieder, in die ihn der krumme Mann gelockt hat. Jener Mann, den er schon mehrmals gesehen hat, den außer ihm aber niemand wahrgenommen hat. In diesem Land existiert nur ein immerwährendes Zwielicht, es ist eine kalte, trübe und düstere Welt ohne Hoffnung, bevölkert von den merkwürdigsten Kreaturen. Um den Weg zurück nach Hause zu finden, muss David zum König des Landes. Der Weg dorthin ist ein Weg zu sich selbst.
Kommentar:
Noch
nie hat es mich beim Lesen eines Kinder- oder Jugendbuches so gegruselt. Man
bekommt als Leser nicht das, was man erwartet. Doch das besondere an der
Geschichte und ihre Andersartigkeit machen
dies als mehr als Wett. David durchlebt alle Gefühle, die einen nach dem
Verlust eines geliebten Menschen überfallen können: Neid, dass andere Menschen
den Verlust überwinden, Eifersucht auf die neue Bezugsperson des Vaters und den
neuen Bruder, Einsamkeit, Wut und Trauer und Rachgefühle. Er ist ein verstörter
Junge, der sich in einer verstörenden Welt widerfindet. Dies bezieht sich
sowohl auf die reale Welt, die sich mitten in einem grausamen Krieg befindet
als auch auf die Traumwelt, die keinen
Trost spendet sondern an Grausamkeit nicht zu wünschen übrig lässt. Ein Spiegel
seiner negativen Gefühle. Je mehr er in dieser Welt voranschreitet desto mehr
wandelt sich David von einem trotzigen und verängstigten Kind zu einem jungen
Mann, der über seine Handlungen nachdenkt und sie zu hinterfragen beginnt.
Der
Weg dorthin ist schwierig und voller Gefahren. Er lernt, Verantwortung für sein
Handeln zu übernehmen. Er sieht viele Grausamkeiten und erlebt auch in der
Traumwelt Verluste. Die Märchen, wie er sie kennt, wandeln sich in
beängstigende Erlebnisse. Der Leser leidet mit dem kleinen Jungen, man lacht und weint mit ihm, man ist wie er
schockiert und entsetzt über Ereignisse in Andersland.
Es
ist bewundernswert, dass sich der Autor traut, den uns bekannten Märchen eine
neue Wendung zu gegeben. Man sollte meinen, es sei ein Sakrileg Schneewittchen
als böse Tyrannin zu zeigen. Doch haben wir und nicht alle schon immer gefragt,
ob dieses "und sie lebten glücklich bis zum Ende" nicht nur Lug und
Trug ist? Egal ob Dornröschen, Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen, alle gehen
hier andere Wege. Wenn die reale Welt so grausam und ungerecht ist, wieso
sollte es da in einer Märchenwelt nicht auch so zugehen? Der Autor zeigt auf,
dass eine Flucht vor der Realität keine Lösung ist und man sich seinen
Problemen stellen muss, statt sie zu ignorieren. Die erwartete Dankbarkeit über die Rettung
eines Dorfes bleibt aus, ein Ritter kann nicht nur ritterlich handeln oder alle
Bedürftigen retten, eine zu rettende Prinzessin entpuppt sich als Blutsaugerin.
Auch die Erzählungen innerhalb der Geschichte zeigen auf, dass nicht alles
immer gut endet. Die Märchen, die der
Förster und Roland erzählen sind bizarr und erschreckend, es ist wird nichts
beschönigt, ihre Sprache ist prägnant und direkt.
David
erkennt letztendlich, dass ein Handel mit dem krummen Mann zwar seine Wünsche
erfüllen würde, dass der Preis aber zu hoch ist und er nicht willens ist,
diesen zu bezahlen. Das böse Wesen hat
ein Kabinett des Grauens geschaffen und zieht überall in der Anderswelt im
Hintergrund die Fäden. Wie eine Spinne in Netz hockt er da und lauert darauf,
dass Kinder in seine Falle tappen. Die Verlockung ist groß, seinen
Versprechungen zu erliegen. Kinder sind willkommene Opfer, da ihre Gefühle sehr
stark sind und sie sich der Konsequenzen ihrer Taten noch nicht bewusst sind.
Sie handeln impulsiv und emotional und
sind somit leichte Opfer.
Ich
kannte von John Connelly bisher nur seine Charlie Parker Romane, in denen der
Leser immer wieder mit der allgegenwärtigen Kraft des Bösen konfrontiert wird.
Diese Thriller sind düster, mystisch und
beklemmend aber auch intensiv spannend.
Für dieses Kinderbuch geht der Autor keine Kompromisse ein, er bleibt
seiner Linie treu.
Das
Cover ist wirklich schon gestaltet. Es zeigt einen Schattenriss des krummen
Mannes und David, der in ein Buch vertieft ist,
blau und weiß ergeben einen schönen Kontrast.
Fazit:
beklemmend,
fesselnd, magisch, bezaubernd. Trotz aller Düsterkeit ein wunderbares Buch über
das Erwachsen werden. Es beschönigt nichts und verspricht doch viel.
Titel:
Das Buch der verlorenen Dinge
Autor:
John Connolly
Übersetzung:
Claudia Feldmann
Verlag:
LIST, TB, 336 Seiten
ISBN:
978-3548609225
Hallo Petra,
AntwortenLöschenich fand die Geschichte auch gruselig, obwohl sie mich mehr verzaubert hat. Das trifft dein Schlusssatz sehr gut!
Bzgl. Roland und der Turm-Geschichte hatte ich einen ganz eigenen Bezug, weil ich mich erst kürzlich durch Stephen Kings Der-Dunkle-Turm-Reihe gelesen habe und es da eben um Roland, den Revolvermann, geht, der zum dunklen Turm aufbricht.
Liebe Grüße,
Nicole