Vor der Inhaltsangabe dieses Buches ist ein kleiner
Kommentar nötig. Das Buch ist wie ein Haus mit vielen Türen. Man öffnet eine
Tür zu einer Geschichte. Doch dahinter verbirgt sich eine weitere Tür zu einer
anderen Geschichte, die auch zu einer weiteren Tür und einer neuen Geschichte
führt. Dies setzt sich endlos fort und doch entsteht am Ende ein einheitliches
Ganzes. Der Rezensent empfiehlt, durch alle Türen zu treten und diese
wunderbare Geschichte auf sich wirken zu lassen. Der Weg lohnt sich.
Der Inhalt der Kerngeschichte lautet wie folgt:
Die 12 jährige Emily Laing ist ein Waisenkind. Eine
Außenseiterin, denn da sie durch einen Unfall ein Auge verloren hat, wird sie
von den anderen Kindern im Heim nur die einäugige Missgeburt genannt. Eines
Tages lernt Emily den Neuzugang Aurora Fitzrovia kennen, die durch ihre dunkle
Hautfarbe ebenfalls von den Kindern gehänselt wird. Die beiden Mädchen werden
beste Freundinnen und geben einander Halt in dem tristen und teils grausamen
Alltag des Waisenhauses.
Eines Tages wird Emily von einer Ratte angesprochen. Bei der
Ratte handelt sich um Lord Brewster, der Emily bittet, ein Auge auf eines der
neuen Kleinkinder zu haben. Emily, die etwas erstaunt ist, dass sie eine Ratte
verstehen kann, findet die kleine Mara Mushromm in dem Kleinkindersaal und
spürt sofort eine innige Verbindung zu dem Mädchen. Doch ausgerechnet in dieser
Nacht wird das Kind entführt und Emily wird dabei überrascht, wie sie in das
Büro des Verwalters einbricht, um mehr über ihre und Auroras Familie zu erfahren. Lord Brewster hilft dem Mädchen
zu fliehen und sorgt dafür, dass sie auf Mortimer Wittgenstein trifft, einen
Alechemisten und Eigenbrötler, der ebenfalls mir Ratten kommunizieren kann.
Gemeinsam mit Maurice Micklewhite, einem Lord der Elfen,
finden Wittgenstein und Emily heraus, dass Mara in die uralte Metropole
gebracht wurde. Die uralte Metropole ist eine Stadt unter der Stadt, verbunden
mit dem heutigen London durch die U-Bahn Linien und Tunnel. Ein Schmelztiegel
merkwürdiger Gestalten, Kreaturen und Fabelwesen, die im normalen London
sicherlich für Aufsehen sorgen würden, hier unten aber als durchaus normal
gelten. Hinter der Entführung des kleinen Mädchens steckt
der Lordkanzler von Kensington, der keine geringer als der Totengott Anubis
ist. Er handelt im Auftrag von Lycidas, der unschuldige Seelen von Kindern
braucht, um sich ein Unsterblichkeitsserum zu brauen.
Emily, die ein Trickster ist, wie ihr Master Wittgenstein
mitteilt, kann in Gedanken mit dem kleinen Mädchen Kontakt aufnehmen. Denn
Emily ist ein Wechselbalg, eine Mischling mit Elfenblut und verfügt über
besondere Gaben, wie sie jedem Wechselbalg zu eigen sind. Nur sie kann das
kleine Mädchen finden. Um ihr Mut zu machen und sie zu motivieren, holt
Wittgenstein Aurora aus dem Waisenhaus und nimmt sie ebenfalls unter seine
Fittiche und gemeinsam machen sich alle auf den Weg in die uralte Metropole, um
Mara zu finden. Begleitet werden sie dabei durch Dinsdale, das ihnen in der
Dunkelheit leuchtet und den Weg zeigt.
Wie die Gefährten Mara finden und welchen Gestalten sie
dabei begegnen, wer Freund und wer Verräter ist, erlesen sie sich bitte selber
lieber Leser und begeben sie sich mutig auf die Pfade der uralten Metropole.
Kommentar:
Die Idee einer Stadt unter der Stadt ist nicht neu, wurde
aber hier grandios umgesetzt und der Autor hat die Begabung, diese uralte
Metropole sehr lebendig zu schildern und mit vielen skurrilen Gestalten zu
füllen. Durch den Gebrauch verschiedener Sprachstile setzen sich die Figuren
gut voneinander ab. Der Straßenslang bei Larry dem Lykantrophen oder dem
Marktführer, die moderne Sprache der Mädchen oder die gestelzte Sprache des
Alchimisten machen die Figuren lebendig und es entsteht ein glaubhaftes Bild der
Personen vor dem Auge des Lesers. Obwohl man das Gefühl bekommt, in einem
altertümlichen London zu sein, spielt das Buch doch in der modernen Welt und
man wird durch Hinweise auf McDonalds immer wieder auf die Realität
hingewiesen. Dazu gehören auch die modernen Songs von Bob Dylan oder The Clash.
Da das Buch in Deutsch verfasst wurde, geht nichts an von der Schönheit der
Sprache durch eine Übersetzung verloren.
Gegner der etwas merkwürdigen Truppe ist ein gefallener
Engel. Doch nur ein Engel kann einen Engel besiegen, so dass die Freunde auf
die Hilfe der Urelieten angewiesen sind. Nur diese haben mit den Belangen der
Menschen schon lange nicht mehr zu schaffen und leben zurückgezogen im Oxford
Circle. Es obliegt Emily, die Hilfe der Engel zu erbitten und sie muss dafür
einen bitteren Preis bezahlen. Überhaupt wird von den beiden jungen Mädchen
sehr viel verlangt und nur durch das Band ihrer Freundschaft schaffen sie es,
den Weg gemeinsam zu bestehen.
Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im zweiten Teil müssen die
Freunde erkennen, dass das, was sie im ersten Teil als Erfolg betrachtet haben,
eigentlich eine Niederlage ist und zum Untergang der uralten Metropole führt.
Nun sind sie auf die Hilfe von Lilith angewiesen, der Partnerin des Lichtlords,
die erste Frau auf Erden, die sich damals Gott widersetzt hat. Sie tritt in
vielen Gestalten auf, als Mann oder Frau, als gutes oder böses Wesen. Sie
wandelt schon seit Jahrtausenden auf der Erde, genauso wie Lycidas und die
anderen Engel. Sie zu überzeugen ist eine schwierige Aufgabe und ihr zu
vertrauen kann zum Tod führen.
Fazit:
Christoph Marzi hat hier eine wunderbare Welt geschaffen,
die von vielen merkwürdigen Gestalten bevölkert ist. Kein fremdes Land, sondern
eine Stadt unter einer uns bekannten Stadt, in die wir ihm gerne folgen. Die
Figuren sind durchweg sympathisch beschrieben, sie sind nicht eindimensional,
sondern besitzen eine Tiefe und eine
Gefühlswelt, die der Leser gut nachvollziehen kann. Und alle haben ihre kleine
Schwächen und Eitelkeiten, was sie noch glaubwürdiger macht. Keine strahlenden
Helden, die im Alleingang mit einem Schwert in der Hand die Welt retten,
sondern eine Gruppe Freunde, die sich vertrauen und die aufeinander angewiesen
sind und nur gemeinsam ihr Ziel erreichen können. Mehr davon!
Titel:
Lycidas
Reihe: Die uralte Metropole Band 1
Autor:
Christoph Marzi
Illustration und Karte: Dirk Schulz
Verlag:
Heyne , 856 Seiten
ISBN:
9783453530063
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